Band Nr. 12: Die Schatten-Chronik
ES wartete seit langer, langer Zeit; Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, aber was bedeutete diese Zeitspanne schon in seinem nach Äonen zählenden Leben? Man hatte ES eingesperrt, aber irgendwann würde ES wieder frei sein, daran gab es keinen Zweifel. ES hatte schon unzählige Generationen seiner Bewacher überlebt. Die Priester, die ES vor Jahrtausenden hierher verbannt hatten, waren längst zu Staub zerfallen, und selbst die Erinnerung an den Kult, dem sie angehört hatten, war vom unbarmherzigen Fluss der Geschichte ausgelöscht worden. Andere waren gekommen und irgendwann untergegangen und in Vergessenheit geraten; zuletzt der kleine Kirchenorden, der mit erstaunlicher Beharrlichkeit über mehrere Jahrhunderte hinweg seine Wächterfunktion erfüllt und all SEINEN Verlockungen widerstanden hatte. Bis zu dem großen Feuer. Seither war ES einsam. Der bitteren Ironie dieses Ereignisses war ES erst zu spät bewusst geworden. ES war frei, wurde nicht länger bewacht - und war dennoch hilflos. Dieselben, die IHM vorher seine Freiheit geraubt hatten, hatten ES auch über die lange Zeit SEINER Gefangenschaft hinweg mit einem winzigen Teil ihrer Lebensenergie gespeist. Nach ihrem Tod war auch ES schwächer und immer schwächer geworden. Wieder waren Jahrzehnte verstrichen, die ES nur in einem Dämmerzustand zwischen Tod und Leben verbracht hatten, aber was niemals gelebt hatte, konnte auch nicht sterben. Irgendwann würden wieder andere Zeiten kommen. ES kannte keine Ungeduld. Weltreiche stiegen auf und gingen wieder unter - und irgendwann spürte ES wieder Leben in seiner Nähe. ES fühlte, wie es von neuer Kraft erfüllt wurde, die die Menschen ihm verliehen. Die Zeit des Dämmerschlafes war vorüber. ES erwachte.
von Wolfgang Hohlbein und Frank Rehfeld, erschienen am 16.12.2003
Titelbild: Kovec