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Phantastische Bibliothek Band 59: Der besessene Baronet von Joseph Sheridan Le Fanu
Verfasst: Fr Jan 17, 2020 8:47 pm
von Olivaro
Der besessene Baronet
und andere Geistergeschichten
von Joseph Sheridan Le Fanu
Aus dem Englischen vonFriedrich Polakovics
Mit einem Nachwort ("Wege nach Golden Friars") von Jörg Krichbaum
Titelillustration von Thomas Franke
293 Seiten
Suhrkamp Taschenbuch Bd. 731 = Phantastische Bibliothek Bd. 59
Erschienen 1980
Suhrkamp Verlag
Inhalt:
1. Der besessene Baronet
2. Das Kind, das mit den Feen ging
3. Richter Harbottle
Verfasst: So Aug 22, 2021 10:03 pm
von Olivaro
Obwohl Joseph Sheridan Le Fanu ein unbestrittender Meister der klassischen Geistergeschichte war, stößt dieser Band jedoch nicht auf ungeteilte Freude.
Zum einen ist das enthaltene Material nicht stimmig mit dem Untertitel "Geistergeschichten", denn die Titelgeschichte ist nur die ausufernde Schilderung des Lebens von Baronet Mardykes, der seinen Vetter um dessen Erbteil betrogen hat. Nachdem der besagte Vetter bei einer Bootsfahrt augenscheinlich ertrinkt und nach dessen Bergung weder Puls noch Atmung feststellbar sind und bereits die Totenstarre eingesetzt hat, erwacht er plötzlich und nach Stunden während der Totenwache zu neuem Leben; dadurch bekommt die Geschichte eine düstere Färbung. Durch die Vermittlung des Wiedererweckten findet der abgewirtschaftete Baronet einen mysteriösen Geldgeber, der neben dem Startkapital auch Tipps für die Sieger der kommenden Pferderennensaison erhält. Hier streift der Text das Märchengenre, denn offenbar ist die Vogelwelt der Insel identisch mit deren mysteriösen menschlichen Bewohnern. Im Laufe der Handlung vermählt sich Sir Bale, dessen Frau sich des unheimlichen Vetters Philip entledigen möchte. Der tritt eines Tages eine weitere Reise über den See an - und ward fortan nicht mehr gesehen.
Diesen 192 Seiten umfassende Kurzroman zeichnet vor allem das vollständige Fehlen jedweder Erklärung aus: Was geschah tatsächlich mit Philip Feltram auf dem See, konnte er tatsächlich wiederbelebt werden und wurde er durch diese Nahtod-Erfahrung zum finsteren Einzelgänger? Oder handelt es sich zum einen lebenden Toten? Wer waren die mysteriösen Leute auf Snakes Island? Wohin ging Philip Feltham und warum hat man nie wieder von ihm gehört? Woran starb Sir Bale am Ende der Geschichte und warum hat er sich im Tod so sehr verändert, "das nicht mehr er selber war - etwas Fremdes, Abstoßendes, das nichts denn Entsetzen verbreitete".
So bleibt im Prinzip nur eine (zu lange, weil ereignisarme) Erzählung, die das Leben und die Personen auf dem Sitz des Sir Bale Mardykes beschreibt - mit einigen rätselhaften Ereignissen. Einzig die kauzig-geniale Übersetzung von Friedrich Polakovics macht den Text interessant und lesenswert; auch die kurze Erwähnung des Malers Schalken war ein netter Einfall.
Die Erzählung "Das Kind, das mit den Feen ging" ist genau das, was der Titel impliziert: ein Märchen, in dem ein Menschenkind von Feen in ihr Reich entführt wird und nur noch hin und wieder bei seinen Geschwistern zur Tür hereinschaut, ohne noch einmal in direkten Kontakt damit zu treten. Das hat mit einer der versprochenen "Geistergeschichten" natürlich nichts zu tun und ist mit seinen nur zehn Seiten Umfang lediglich eine Art literarisches Lesezeichen zwischen den beiden anderen Erzählungen.
Die dritte und letzte Geschichte erzählt vom Leben des gnadenlosen Richters Harbottle und dessen ebenso gnadenlosem Ende. Hier kann man am ehesten von einer Geistergeschichte reden, die den Untertitel des Bandes rechtfertigt. Durch die häufige Verbreitung in Anthologien ist dies eine der bekanntesten Erzählungen Le Fanus.