Von Kröten, Blut und Nadeln
Nach langer Pause ist im September die neunte Episode von MUSGRAVE erschienen:
„Die Stunde der Hexen“
In diesem Fall gibt es nicht einfach ein Monster of the Week – es ist der erste, in dem ein Gegenspieler auftaucht, der uns noch in weiteren zukünftigen Romanen begegnen wird.
Eigentlich sogar mehr als einer.
Und einer davon ist eine Kröte.
Kröten spielen in der europäischen Folklore sehr vielfältige Rollen. Mal galten sie als giftig und Unglück verheißend, mal als gutes Omen und Glücksbringer oder sogar als magisches Heilmittel.
Als Amulett aus Ton oder Wachs – aber auch durchaus mal als lebendes Tier – wurden sie Schwangeren gegeben, um die Geburt zu unterstützen. Bei einer anderen, auch für England belegten Methode zur Heilung ganz unterschiedlicher Krankheiten steckte man eine lebende Kröte in ein Säckchen und trug es um den Hals. Die Idee dahinter war, dass die Krankheit auf die Kröte übergehen sollte.
Teils brach man den armen Viechern dafür die Beine.
Unsere Kröte ist allerdings ein ganz anderes Kaliber, und der Versuch, sie in einen Sack zu stecken, wäre mutmaßlich ziemlich nach hinten losgegangen. Denn: Unsere Kröte ist ein
familiar.
Im Hexenglauben Englands spielten Familiare eine große Rolle. Man verstand darunter Tiere, die in Wirklichkeit
imps waren. Der Begriff „imp“ kann unterschiedliche Bedeutungen haben, wie „Kobold“ oder „Gnom“. Im Falle der Familiare waren jedoch eher niedere Dämonen oder Teufel gemeint.
Diese üblen Wesen gaben der Hexe die Kräfte, die der Teufel ihnen zuschusterte, erfüllten aber auch Aufträge für die Hexen und Hexer, zu denen sie gehörten. Auftreten konnten sie in allerlei Gestalten.
Eliza erwähnt einen Hexer, der seine Familiare in der Form dreier Hummeln empfing – ein Detail, das ich einem realen Fall entnommen habe.
Möglich war aber auch eine ganze Reihe anderer Tiere – Katzen tatsächlich im seltenen Fall: Schwarze Katzen gelten in der englischen Folklore eher als glückbringend, wie man auf zahllosen Glückwunschkarten und in Form von
charms, also Talismanen, sehen kann.
Einige Familiare sollen sogar die Gestalt eines Menschen angenommen haben.
Die Kröte in Goodman’s Land, die ihres Zeichens ein kraftvoller Familiar ist, war im Grab einer gewissen Elizabeth Lee gebannt, die im achtzehnten Jahrhundert als Hexe verschrien war.
Auch Elizabeth entstammt der realen Welt.
Sie war eine von mehreren hundert Personen, die in England der Hexerei beschuldigt wurden. (Wenn euch jemand etwas von abertausenden und tausenden –
Millllionennnn – von Opfern weismachen will: Shut it.)
Etwas zu Elizabeth‘ Geschichte, könnt ihr in diesem Artikel nachlesen:
https://www.chroniclelive.co.uk/news/ga ... e-19165612
Dort findet ihr auch ein Foto des Kirchenfensters, das über dem Grab der angeblichen Hexe wacht und dessen Äquivalent im Roman zerstört wurde.
Einmal in Freiheit überzieht die bösartige Kröte das Dorf mit neuem Unheil. Die Hexen, die sich dabei um sie versammeln, sind für die quakende Dämonin dabei nur Mittel zum Zweck.
Roderick Craine hat ganz Recht, wenn er sagt: Die Hexen halten sich für die Meisterinnen, sind aber doch nur Werkzeuge.
Überhaupt, Roderick Craine ...
In dieser Episode begegnen wir einem Fremden, der unlängst in das verrufene Haus Ravenshead gezogen ist. Craine weiß erstaunlich viel über die Vorgänge im Dorf, aber auch über Eliza, Harkers Krankheit und so manches mehr. Ein Werkzeug, das ihm dabei große Dienste leistet, ist ein Obsidianspiegel. Als er ihn Eliza zeigt, fragt er sie, ob der Name John Dee ihr etwas sagen würde.
Die allermeisten, die sich mit dem Unheimlichen und Phantastischen befassten, dürften schon von Dr. Dee gehört haben. Er war ein Universalgelehrter, der – wie üblich in seiner Zeit – sowohl den Wissenschaften als auch dem Mythischen und Zwischenweltlichen zugeneigt war. Im sechzehnten Jahrhundert gab es noch keine scharfe Trennung zwischen dem einen und dem anderen, die Übergänge waren fließend. Astrologie und Astronomie gingen Hand in Hand, ein handfester Mathematiker konnte parallel ebenso versiert in der Deutung von allerlei Omen sein. Eine Methode der Zukunftsschau war dabei das Lesen in spiegelnden Oberflächen.
Diese Art der Wahrsagerei oder Divination kann mit einem polierten Objekt aus beispielsweise Stein oder Metall durchgeführt werden, ebenso gut aber auch mit einer simplen Schüssel Wasser – oder der berühmten Kristallkugel.
(Die Methode „Angestrengtes Glotzen in Wasserschüssel“ konnte man übrigens vor ein paar Jahren auf AstroTV bestaunen.)
Ein bekannter Nutzer der Methode mittels Obsidianspiegels war der erwähnte Dr. Dee.
Wer ihn noch nicht kennen sollte, kann auf Wiki etwas über ihn lernen:
https://de.wikipedia.org/wiki/John_Dee
Inklusive einer Abbildung seines Spiegels, der heute im Britischen Museum zu finden ist.
Roderick Craine beherrscht also die Schau von Vergangenem, Zukünftigem und Gegenwärtigem.
Der so höfliche wie verschlagene Herr mit dem fehlenden Finger hat jedoch noch einiges mehr im Ärmel. Es steht sogar in Frage, ob er überhaupt ein Mensch ist.
Edgar warnt Eliza eindringlich vor Craine, und auch sie selbst sieht den geheimnisvollen neuen Nachbarn Dinge tun, die für einen normalen Menschen unmöglich wären.
In „Die Stunde der Hexen“ lernen wir Craine zunächst nur kennen. Wer oder was er ist und weshalb er ein so ungutes Interesse an Eliza hegt, wird erst nach und nach enthüllt werden. Aufmerksam auf sie muss er in jedem Falle schon vor den Ereignissen von Teil 09 geworden sein. Aufmerksame Leser werden bemerkt haben [jetzt alle nicken], dass er sich bereits in Teil 08,
„Der Kuss der bösen Fee“, in einem Brief an Eliza gewandt hatte.
Was meint ihr? Was könnte hinter Craine stecken?
(Spoiler: Nein, er ist kein verschollener Verwandter, kein unbesiegbarer Overlord und auch nicht der Gottseibeiuns. – Und nein, Eliza ist noch immer keine Auserwählte. Fürchtete euch nicht. We don’t do that here.)
Neben der Kröte, einer Gruppe mordlustiger Hexen und Roderick Craine lernen wir aber noch jemand anderen, ähnlich Unerfreulichen kennen:
Annis Black.
Auch bekannt als „Black Annis“, „Cat Annis“ oder unter ähnlichen Namen, spukt diese Menschenfresserin schon seit Jahrhunderten durch Leicestershire. (Phonetisch: Lästäschier – Englisch ist eine tolle Sprache.)
Es stimmt übrigens, was im Roman behauptet wird: Der Legende nach sind die Fenster der Cottages in Leicestershire tatsächlich so klein, damit Annis nicht mehr als ihren Arm ins Innere strecken kann.
Einen kleinen Artikel über sie findet ihr hier:
https://britishfolklore.com/black-annis-bower/
Für MUSGRAVE hat Black Annis jedoch noch eine ganz andere, unheilschwere Bedeutung ...
Da habe ich zugegebenermaßen an der Sagengestalt etwas gedreht. Ihre Beschreibung und die Ausführungen darüber, was sie tut, entsprechen der Folklore. Ihre spezielle Wirkung und Rolle für die Serie habe ich in meinem eigenen Hexenkessel geköchelt.
Sehr nah an der Realität bzw. dem, was man dafür hielt, bewege ich mich, wenn ich über das schreibe, was die Hexen tun, die Goodman’s Land terrorisieren.
Die Hexe der alten Sage und die Hexe bzw. der Hexer, der in der Frühen Neuzeit vor Gericht gestellt wurde, unterscheiden sich doch sehr von dem, was wir heute unter „Hexe“ verstehen.
Lasst euch einen Rat ans Herz legen. Oder zwei:
Wenn jemand anfängt, euch von „weisen Frauen“, der bösen, mordlüsternen Kirche und all dem Schlonz zu erzählen – LAUFT.
And it’s the Frühe Neuzeit, Kids; nicht „
das Mittelalter™“.
Liest man sich Berichte und Akten durch, die sich mit Fällen von Hexerei befassen (bzw. die Sekundärquellen, die dieselben dankenswerterweise aufgearbeitet haben), stößt man auf Verbrechen wie das Behexen von Vieh und Kindern. Man liest von plötzlichen Krämpfen, Zungenreden, vom Schlag Getroffenen. Von Menschen, die mit einem Mal dahinsiechen oder seltsame Dinge erbrechen (vor allem in kontinentaleuropäischen Hexereivorwürfen immer wieder beliebt: Das Hervorwürgen von Nadeln, Haar, Nägeln und allerlei anderem Unrat).
Man liest von Kühen, die plötzlich keine Milch mehr geben – oder nur blutige. Von Teig, der nicht aufgeht, und Bier, das nicht gärt. Von Hagel und Dürren, die Ernten zerstören. Von Frauen, die nicht gebären können und Männern, denen „ein Bändel geknüpft“ wurde, so dass sie ihre Potenz einbüßen.
Die Liste ist lang und lässt sich so oder so ähnlich immer wieder finden.
Den Menschen, die damals ihre Nachbarn anzeigten und gegen sie aussagten, ging es nicht um ein bisschen Budenzauber, sondern um ganz konkrete, alltägliche Bedrohung ihres Lebens.
Für uns klingt das heute befremdlich, und auch damals schon gab es die, die von der Vorstellung von Unheil stiftenden Hexen nicht besonders viel hielten.
Doch die Dynamiken und Mechanismen hinter Hexereivorwürfen waren komplex und sind es bis heute. Dabei stößt die Forschung immer wieder auf neue Zusammenhänge und verwirft alte Annahmen.
Übrigens: Die allermeisten Hexen und Hexer in England wurden nicht verbrannt. Man hängte sie, da Hängen eine übliche Strafe für Verrat war. Und die Hexe, die mit dem Teufel paktierte, war zweifellos eine Verräterin. Sie war eine Agentin des ultimativ Bösen in der Welt und somit eine Feindin jedes Einzelnen.
Was aber auch nicht hieß, dass jede Anklage unweigerlich zur Verurteilung und/oder zum Tod der angeklagten Person führte.
Leider wird immer noch viel Nonsens und sehr absichtlich verdrehter Humbug zum Thema publiziert. Darum möchte ich, wenn meine Hexen durch die Wiesen und Wälder rings um Musgrave Hall ziehen, immer auch ein Auge darauf werfen, wie es denn wirklich war.
It’s not much, but it‘s honest work.
Die Welt verzaubert sich wieder. Ein Teil dieses Zaubers, der durch das MUSGRAVE-Universum zieht, sind nun auch die Hexen. Mal werden sie im Verborgenen operieren, mal offener. Und ob über die spezielle Hexe dieses Bandes schon das letzte Wort gesprochen ist ... Wir werden es sehen.
Wie immer hoffe ich, der Roman und dieser kleine Blick hinter die Kulissen haben euch Spaß gemacht. Wir sehen uns dann im Frühjahr im zehnten Teil wieder!
(Wahnsinn, oder? ZEHN! Zehn Episoden von MUSGRAVE. Da darf man schonmal ein gepflegtes „Uff!“ vorbringen.
Yours truly